Pilotprojekt „Big Tiny Haus“ – Neue Wohnformen in den Gemeinden der Stecknitz-Region?
„Wir zeigen Ihnen was wir können, von einer „anpassbaren“ Planung eines Einfamilienhauses über eine Wohnung eines Zweipersonenhaushalts bis hin zu großräumigen Einrichtungen der ambulanten Pflege. Immer geht es dabei um die Frage, wie groß soll mein Haus werden, wie ist es begehbar, welche Materialien verwende ich oder wieviel Licht benötige ich in den einzelnen Räumen und Zimmern?“ Mit diesen Worten empfing Prof. Dipl.-Ing. Stephan Wehrig, Prodekan des Fachbereichs Bauwesen, die Bürgermeister, Bürgermeisterinnen, Amtsvorsteher*innen und Bauamtsleiter*innen der Stecknitz-Region.
Amtsvorsteherin Iris Runge hatte zu der nicht öffentlichen Dienstsitzung der Bürgermeister*innen eingeladen und informierte im Vorfeld über das aktuelle Thema: Neue Wohnformen am Beispiel des „Big Tiny House“-Projekts in Nusse. Vor dem Hintergrund … „das sich Gemeinden heute verstärkt mit Geschosswohnungsbau und insbesondere mit neuen Wohnformen auseinandersetzen müssen“, sagte Runge, „werden die Gemeinden sich im Rahmen von Ausweisung von Wohnbauflächen mit der neuen Thematik befassen müssen.“
Bereits im Sommer 2018 hatten sich Studierende der Technischen Hochschule Lübeck in einem Pilotprojekt in der Gemeinde Nusse mit neuen Wohnformen befasst. Die Ergebnisse dieses Projekts wurden den rund 20 anwesenden Bürgermeister*innen im BauForum der TH Lübeck an drei beispielhaften Arbeiten vorgestellt, allesamt entstanden im Projekt „Big Tiny House“ in Nusse. Die unterschiedlichen Bautypen und –varianten konnten in drei Darstellungsvariationen begutachtet werden, als zweidimensionale Planzeichnung, als kleine Modelle oder als ganz neue dreidimensionale Technologie mit einer Virtual Reality-Brille mit erleb- und begehbaren virtuellen Häusern. „Ein besonderes Erlebnis, dass ich Ihnen nicht vorenthalten möchte“, sagte Amtsleiterin Runge zur Begrüßung am Abend der Dienstsitzung im BauForum.
„In Nusse sind wir am Fachbereich Bauwesen mit dem Thema Virtual Reality gestartet. Mit diesem Instrument können Bauherr*innen zukünftig Entscheidungen fällen, die nicht mehr nur zustande kommen aufgrund von zwei-oder dreidimensionalen Zeichnungen, kleiner Modelle oder aufgrund von Quadratmetern und anderer Abmessungen auf dem Papier. Die Bauherr*innen und Entscheider*innen sind mit den herkömmlichen Darstellungen in ihrer Vorstellungskraft meistens überfordert“, sagte Wehrig zur aktuellen Situation.
In Nusse durften sich die Studierenden pilotmäßig mit der Virtual Reality (VR) an einem kleinen Entwicklungsfeld ausprobieren und haben ca. 20 Wohneinheiten durchgestaltet. Sie wollen damit zeigen, was alles mit VR möglich ist.
Beim Projekt „Big Tiny House“ standen die Planungen für altersgerechtes und intelligentes Wohnen im Mittelpunkt, bei denen es galt, die Wohnzyklen von einem Haus für eine mehrköpfige Familie bis hin zu einem Zweipersonenhaushalt zu berücksichtigen. Denn die Menschen in Nusse, wie überall auf der Welt, wollen im Alter keinen Umzug zur institutionellen Pflege. Von der Wiege bis zur Bahre wollen sie gern in ihren Häusern verbleiben, auch im Alter, wenn Pflege notwendig wird.
„Das alles muss unser Haus können, wenn wir über neue Wohnformen nachdenken“, sagte Wehrig. „Deshalb sind unsere Häuser nur zwischen 60 und 70 m² groß. Mit der VR-Technologie können wir unterschiedliche Zustände simulieren. Dabei können Sie schon jetzt sehen, wie gestaltet sich dort die Pflegesituation mit einem extra Pflegezimmer. Sie sehen bspw. welchen Ausblick habe ich vom Bett oder wie ist die räumliche Situation überhaupt im Zimmer. Da der Radius eines Menschen im Alter immer kleiner wird, sehen Sie auch, wie sich dieses Zimmer gestalten lässt, welche Qualität dieser Raum hat und wie sich die Lichtbeschaffenheit gestaltet. Das alles können Sie heute verfolgen.“
Als wissenschaftlich gesichert gilt, dass 80 Prozent unserer Entscheidungen auf Emotionen basieren. Zu groß, zu klein, zu dunkel, zu bunt, leider wird dieses den Bauherr*innen erst dann deutlich, wenn das Haus steht und fertig ist. Dann kommen meistens enttäuschte Äußerungen wie, das habe ich mir aber ganz anders vorgestellt.
„Mit Virtual Reality können wir einen Teil der Emotionen und Vorstellungen schon in der Planung berücksichtigen. Dazu nehmen wir uns die wesentlichsten Raumparameter vor und verbinden diese mit dem Raumerlebnis, dem Raumerfahren. Und genau das haben wir am Beispiel des Projekts „Big Tiny House“ mit den Wohnungen in der Gemeinde Nusse durchgespielt“, so Wehrig.
An drei Projekten und Stationen konnten die Gemeindevorsteher*innen, Bürgermeister*innen und Bauverwaltungschefs sich über den Prozess VR in der Architektur informieren. Die Studierende standen ganz klassisch an ihren Modellen und zusätzlich an virtuellen Gebäuderundgängen und in der Raumgestaltung mittels VR-Brille zur Verfügung.
„Sie können sich durch diese Häuser und Innenbereiche hindurchbewegen und bekommen so eine bessere Entscheidungsgrundlage, wie das spätere Gebäude einmal aussehen wird. Sie bewegen sich mit der VR durch die Räume, erleben das Haus und bekommen so eine realitätsnähere Vorstellung vom Gebäude. Das sind Raumerfahrungen, die für jedermann zugänglich gemacht werden können und deshalb untersuchen wir das Potential dieser Technologie. VR in der Architektur ist das, was wir Ihnen zeigen wollen. Anhand drei ausgewählter Arbeiten präsentieren wir, wie Digitalisierung wieder näher zu den Menschen kommen kann, indem sie Raumerfahrung und –erlebnis bereits im architektonischen Planungsprozess ermöglicht, also schon von Anfang an alle Akteur*innen einbezieht. Damit können wir im Gefüge von Planung, Bauen, Architekturbüro und Kunde, Kundin / Auftraggeber*in eine viel höhere Akzeptanz und Anerkennung“ erreichen“, beschrieb Professor Wehrig die Rolle der VR in der Architektur.
Die Teilnehmenden an der Dienstsitzung zeigten sich beeindruckt von den Arbeiten der Studierenden und von den Möglichkeiten, die die Virtual Reality in der Architektur bietet. Sie diskutierten noch bis in den späten Abend über die Ansätze und Ergebnisse des Pilotprojektes Big Tiny House und sprachen von einer Fortsetzung des Dialogs mit dem Fachbereich Bauwesen.
Text und Fotos Technische Hochschule Lübeck